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Kein Grund zu bleiben

Gesund zu leben bedeutet Verantwortung zu übernehmen für Gedanken, Gefühle und Handlungen. Verantwortung zu übernehmen für alles was war, für alles was ist. Verantwortung zu übernehmen bedeutet aufzuhören, im Außen nach Begründungen zu suchen. Verantwortung zu übernehmen bedeutet anzuerkennen, dass alles, was in meinem Leben war und ist, dass alles mit mir zu tun hat. Sonst wäre es nicht in meinem Leben. So einfach ist das. Und doch so schwer.

Mit achtzehn hatte ich einen Verkehrsunfall. Ich wurde zum Opfer. Diese Geschichte erzählte ich mir ab dem Zeitpunkt. Und ich verbrachte eine lange Zeit damit, die Schuld im Außen zu suchen. Die Umstände waren schuld. Andere Menschen waren Schuld. Und das Wetter sowieso. Wir finden immer etwas im Außen, was glaubhaft für uns selbst eine Begründung dafür liefert, dass wir uns nicht verändern müssen. Damit wir nicht hinschauen müssen. Denn Veränderungen und Hinschauen können schmerzhaft sein. Und Opfer sein hat einen Vorteil, der sogenannte sekundäre Krankheitsgewinn. Es war mir zu der Zeit nicht bewusst.

Ich habe mir bis etwa Ende meiner Zwanziger die Geschichte erzählt, dass ich nicht laufen kann. Weil ich ja diesen Unfall hatte mit Achtzehn. Weil ich ja seitdem Einschränkungen am rechten Bein habe, verbunden mit Schmerzen am rechten Knie. Weil mich die Ärzte nicht richtig behandelt haben. Weil es neblig war am Unfalltag, und der Hubschrauber nicht kam, um mich in eine bessere Klinik zu bringen. Weil die Ärzte später gesagt haben, wenn ich mich nicht am Knie operieren lasse, dann werde ich mit Dreißig am Stock gehen. Ich habe darauf förmlich gewartet. In der Erwartung, mit Dreißig am Stock zu gehen habe ich meine Tage ausgerichtet. Fast eine gesamte Dekade lang. Ich erzählte mir immer wieder diese Opfergeschichten. Weil sie mir ein Gefühl gaben. Ein Gefühl von Lebendigkeit. So komisch es klingen mag: Ich fühlte mich im Leid lebendig. Ich erhielt Aufmerksamkeit und Mitleid für meine Unfallgeschichte. Ich wurde damit gesehen. Wie erbärmlich. Und auch so menschlich. Ich benutzte unbewusst diese Geschichte und meinen Opferstatus, um mich gesehen, anerkannt und vielleicht auch sogar geliebt zu fühlen. Das funktionierte augenscheinlich ziemlich gut für mich. Ich brauchte also gar nicht losgehen. Gehen war ja eh auch schwierig. Ich hatte ja Knie.

Ich weiß nicht mehr was genau der Auslöser war, als ich für mich beschloss, auszusteigen. Auszusteigen aus der Opferrolle. Auszusteigen aus den Geschichten. Was ich weiß ist, dass es immer einen Teil in mir gab, der nicht daran glauben wollte, dass ich mit Dreißig am Stock gehe. Dieser Teil in mir glaubte diesen Aussagen der Ärzte nicht. Dieser Teil in mir war stärker. Dieser Teil glaubte daran, dass ich gesund werden kann. Dass ich wieder richtig laufen werde. Dieser Teil in mir der wusste, Knie zu haben ist nur eine Ausrede und Mittel zum Zweck.

Dieser Teil in mir war da. Ich konnte und wollte ihm lange nicht zuhören. Diesem Teil zuzuhören hätte bedeutet, dass ich meine Selbstlügen mir gegenüber eingestehen müsste. Das ich etwas aufgeben müsste. Und die große Frage war: Wer bin ich ohne mein Leid?

Es war soviel leichter zu leiden, die Verantwortung abzugeben. Bis es eines Tages zu schwer wurde. Meine Seele schaffte es nicht mehr, dieses Leid zu ertragen. Um nicht vollends kaputt zu gehen in totaler Selbstaufgabe war ich gnadenlos gezwungen, endlich hinzusehen. Dem Leiden ein Ende zu setzen. Ich konnte also gar nicht anders, als zuzuhören. Mir selbst. Ich hörte dem Teil in mir zu, der immer daran geglaubt hat, dass es auch eine andere Geschichte gibt, die ich mir erzählen kann. Eine Geschichte, in der ich nicht länger Opfer bin.

Meine Angst davor, tatsächlich mit Dreißig am Stock zu gehen, sie wurde mein Antrieb. Und da war noch etwas, was der Angst das Feuer gab: Meine Wut. Ich war wütend auf alles und jeden, was im Zusammenhang mit dem Unfall stand: Der Unfallgegner, die Ärzte, die Gutachter, das Wetter.

Und vor allem war ich wütend auf mich. Wie konnte ich nur so lange alles das glauben, was andere über mich und meinen Bein- und Kniezustand gesagt haben? Wie konnte ich nur glauben, dass ich mit Dreißig am Stock gehen werde? Nur weil es Menschen im weißen Kittel gesagt haben? Wie konnte ich mich selbst so viele Jahre nur auf ‚Knie’ reduzieren?

Das tat weh. Diese Konfrontation mit mir selbst und dieser Schmerz der Erkenntnis waren stärker als die Schmerzen im Knie. Ich erkannte meine Verantwortung und ich nahm sie an. Schmerz, Angst und Wut wurden zu meinen Antreibern für radikale Veränderungen. Wir vergessen manchmal, dass wir immer über die nötigen Ressourcen verfügen, die wir für Heilung benötigen. Meine Ressourcen waren Schmerz, Angst und Wut. Ich durfte lernen, sie zu erkennen und förderlich für mich zu nutzen, und nicht länger gegen mich zu verwenden.

Angst kann lähmen. Sie ist aber auch der Gegenpol zu den Potenzialen. Wut kann zerstören, und sie kann als eine starke Energie Schöpferkraft freisetzen. Und Schmerz? Schmerz lässt uns fühlen. Und er fordert uns auf, Verantwortung zu übernehmen. Hinzuschauen. Zu sehen, was ist die Botschaft, was darf verändert werden. Zu erkennen, wofür es sich lohnt loszugehen. Denn: Kein Grund zu bleiben ist der beste Grund zu Gehen. Ich ging. Mit Knie, zurück ins Leben.

von Monika Schneider

Monika Schneider Coaching

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